GB Psych - Verpflichtend für alle Unternehmen
Ihr praktischer Leitfaden für die rechtssichere Umsetzung der psychischen Gefährdungsbeurteilung – von der Vorbereitung bis zur nachhaltigen Implementierung.
Seit 2013 sind Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, auch psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu beurteilen. Doch viele Unternehmen zögern noch immer – aus Unsicherheit oder Sorge vor dem Aufwand. Dabei ist eine gut durchgeführte Gefährdungsbeurteilung der Schlüssel zu gesünderen Arbeitsplätzen und rechtlicher Sicherheit.
Was Sie rechtlich wissen müssen
Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) §5 verpflichtet alle Arbeitgeber zur Beurteilung psychischer Belastungen¹. Dies gilt für alle Unternehmen ab einem Beschäftigten – unabhängig von Branche oder Größe.
Die gesetzlichen Anforderungen:
Systematische Ermittlung und Bewertung psychischer Belastungen
Ableitung konkreter Schutzmaßnahmen
Überprüfung der Wirksamkeit
Vollständige Dokumentation
Wichtig: Es geht nicht um die Beurteilung einzelner Personen, sondern um Arbeitsbedingungen und deren Belastungspotenzial.
Schritt 1: Vorbereitung und Organisation
Projektteam zusammenstellen
Kernteam (3-5 Personen):
Geschäftsführung oder Bereichsleitung
Fachkraft für Arbeitssicherheit
Betriebsarzt (falls vorhanden)
Mitarbeitervertretung
HR-Verantwortliche
Externe Unterstützung: Bei komplexeren Strukturen empfiehlt sich die Hinzuziehung spezialisierter Berater - wie uns.
Rahmen definieren
Zeitplan: Realistische Planung (meist 6-12 Monate)
Ressourcen: Budget und Personalkapazitäten
Kommunikation: Transparente Information aller Beteiligten
Bereiche: Welche Arbeitsbereiche werden erfasst?
Schritt 2: Methoden auswählen
Die drei bewährten Verfahren
Beobachtungsverfahren
Strukturierte Arbeitsplatzbegehungen
Tätigkeitsanalysen
Dokumentenanalyse
Geeignet für: Offensichtliche Belastungsfaktoren, standardisierte Arbeitsplätze
Befragungsverfahren
Standardisierte Fragebögen (z.B. COPSOQ, KFZA)
Strukturierte Interviews
Fokusgruppen
Geeignet für: Subjektive Belastungswahrnehmung, größere Organisationen
Messverfahren
Auswertung vorhandener Kennzahlen
Krankenstand, Fluktuation, Überstunden
Beschwerden und Konfliktmeldungen
Geeignet für: Erste Hinweise, kontinuierliches Monitoring
Unser Tipp: Methodenmix nutzen
Kombinieren Sie verschiedene Verfahren für ein vollständiges Bild. Starten Sie mit der Datenanalyse, ergänzen Sie durch Beobachtungen und vertiefen Sie mit Befragungen.
Schritt 3: Belastungsfaktoren systematisch erfassen
Die vier Hauptdimensionen nach GDA-Leitlinie²
1. Arbeitsinhalt und -aufgabe
Vollständigkeit und Ganzheitlichkeit der Aufgabe
Handlungs- und Entscheidungsspielraum
Qualifikation und Kompetenzentwicklung
Emotionale Anforderungen
2. Arbeitsorganisation
Arbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung
Arbeitsablauf und Arbeitsintensität
Pausen- und Erholungszeit
Kommunikation und Kooperation
3. Soziale Beziehungen
Führungsverhalten
Kollegiale Beziehungen
Vorgesetztenverhalten
Betriebsklima
4. Arbeitsumgebung
Physikalische Faktoren (Lärm, Beleuchtung, Klima)
Räumliche Gestaltung
Arbeitsmittel und Arbeitsplatz
Gefahrstoffe
Praktisches Vorgehen bei der Datensammlung
Phase 1: Dokumentenanalyse
Organigramme und Stellenbeschreibungen
Arbeitszeit- und Pausenregelungen
Beschwerde- und Konfliktstatistiken
Vorhandene Befragungsergebnisse
Phase 2: Arbeitsplatzbegehungen
Strukturierte Checklisten verwenden
Verschiedene Tageszeiten berücksichtigen
Gespräche mit Beschäftigten führen
Foto-/Videodokumentation (mit Einverständnis)
Phase 3: Mitarbeitendenbefragung
Validierte Instrumente nutzen
Anonymität garantieren
Ausreichende Rücklaufquote sicherstellen
Ergebnisse zeitnah kommunizieren
Schritt 4: Belastungen bewerten und priorisieren
Bewertungskriterien etablieren
Belastungsintensität:
Niedrig: Gelegentlich auftretend, gut kompensierbar
Mittel: Regelmäßig auftretend, teilweise belastend
Hoch: Dauerhaft/häufig auftretend, stark belastend
Betroffenenanzahl:
Einzelarbeitsplätze vs. ganze Bereiche
Führungskräfte vs. Mitarbeitende
Besonders vulnerable Gruppen
Handlungsdringlichkeit:
Sofortiger Handlungsbedarf (rechtlich/gesundheitlich kritisch)
Mittelfristige Maßnahmen erforderlich
Langfristige Optimierung möglich
Priorisierungsmatrix anwenden
Belastung Intensität Betroffene Dringlichkeit Priorität Zeitdruck durch unklare Prioritäten Hoch Viele Hoch 1 Ergonomische Mängel Mittel Wenige Mittel 3 Fehlende Entwicklungsmöglichkeiten Mittel Viele Mittel 2
Schritt 5: Maßnahmen ableiten und umsetzen
Das STOP-Prinzip anwenden
S - Substitution: Belastung ganz vermeiden
T - Technische Maßnahmen: Arbeitsmittel/Arbeitsumgebung anpassen
O - Organisatorische Maßnahmen: Arbeitsabläufe optimieren
P - Persönliche Maßnahmen: Qualifikation/Verhalten stärken
Maßnahmenkatalog entwickeln
Sofortmaßnahmen (0-3 Monate):
Akute Gefährdungen beseitigen
Kommunikationsdefizite beheben
Überlastung reduzieren
Mittelfristige Maßnahmen (3-12 Monate):
Strukturelle Veränderungen umsetzen
Qualifizierungsprogramme starten
Führungskräfte schulen
Langfristige Maßnahmen (1-3 Jahre):
Kulturwandel begleiten
Systeme und Prozesse optimieren
Kontinuierliche Verbesserung etablieren
Schritt 6: Wirksamkeit überprüfen
Erfolgsmessung planen
Quantitative Indikatoren:
Krankenstand und AU-Tage
Fluktuation und Fehlzeiten
Überstunden und Mehrarbeit
Beschwerden und Konflikte
Qualitative Indikatoren:
Mitarbeiterzufriedenheit
Kommunikationsqualität
Arbeitsklima
Führungsqualität
Monitoring-System etablieren
Regelmäßige Überprüfung: Mindestens jährlich, bei Veränderungen häufiger
Anpassung der Maßnahmen: Was wirkt nicht wie geplant?
Neue Belastungen: Welche Faktoren sind hinzugekommen?
Kommunikation der Erfolge: Motivation durch Transparenz
Schritt 7: Dokumentation und Fortschreibung
Was dokumentiert werden muss
Gesetzlich gefordert:
Durchgeführte Ermittlungsverfahren
Bewertung der Belastungen
Abgeleitete Maßnahmen
Überprüfung der Wirksamkeit
Zusätzlich empfehlenswert:
Beteiligte Personen und Rollen
Zeitpläne und Meilensteine
Ressourceneinsatz
Lessons Learned
Fortschreibung als kontinuierlicher Prozess
Die Gefährdungsbeurteilung ist kein einmaliges Projekt, sondern ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess. Auslöser für Aktualisierungen:
Wesentliche Arbeitsplatzveränderungen
Neue Erkenntnisse zu Gefährdungen
Unfälle oder gesundheitliche Beeinträchtigungen
Unwirksamkeit der Maßnahmen
Spätestens alle 3-5 Jahre
Häufige Stolpersteine vermeiden
Fehler 1: Gefährdungsbeurteilung als reines Compliance-Thema behandeln
Besser: Als Chance für echte Verbesserungen nutzen
Fehler 2: Nur standardisierte Fragebögen verwenden
Besser: Methoden an Ihre spezifische Situation anpassen
Fehler 3: Mitarbeitende nicht ausreichend einbeziehen
Besser: Partizipative Ansätze wählen
Fehler 4: Maßnahmen ohne Prioritätensetzung ableiten
Besser: Systematisch priorisieren und schrittweise umsetzen
Eine professionell durchgeführte psychische Gefährdungsbeurteilung ist mehr als eine rechtliche Pflicht – sie ist der Grundstein für nachhaltig gesunde Arbeitsplätze und eine resiliente Organisation.
Quellen:
¹ Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) §5: "Beurteilung der Arbeitsbedingungen"
² Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA): "Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz"